Geschichte der Pflanzenheilkunde

                        Von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert

In einer Zeit der medizinischen Spezialisierung, in der beispielsweise ein Neurologe wenig über die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Hals-, Nasen-, Ohrenkunde weiß, kann man sich die Epoche der holistischen Heilverfahren, in der Zauberei, Mystik und mündliche Überlieferungen die Grundlage der Heilverfahren bildeten, kaum noch vorstellen.

Seit Urzeiten spielen Heilpflanzen für das menschliche Wohlbefinden und die Gesundheit eine wichtige Rolle. So versorgte z. B. der Lein (Linum usitatissimum) die Menschen mit nahrhaftem Speiseöl, aber auch mit Brennstoff, Hautsalbe und mit Fasern, aus denen Stoffe gewebt werden konnten. Außerdem verwendete man ihn, um Beschwerden wie Bronchitis, entzündete Atemwegsschleimhäute, Furunkel und Verdauungsprobleme unterschiedlichster Art zu behandeln. Angesichts der guten Eigenschaften dieser und zahlloser anderer Pflanzen überrascht es wenig, daß in den vielen Kulturen die Meinung verbreitet war, Pflanzen besäßen nicht nur heilende, sondern auch magische Kräfte. Man kann daher annehmen, daß Kräuter über Zehntausende von Jahren nicht nur aufgrund ihrer therapeutischen Eigenschaften verwendet wurden, sondern auch wegen ihrer angeblichen Zauberkräfte. So verwundert es denn auch nicht, daß man in einer 60000 Jahre alten Grabstätte im Irak acht verschiedene Heilpflanzen fand, darunter den Meerträubel (Ephedra sinica), wobei die Verwendung der Pflanzen als Grabbeigabe den Schluss zulässt, daß man ihnen nicht nur medizinische, sondern auch übernatürliche Fähigkeiten zuschrieb. In einigen Kulturen glaubte man, auch Pflanzen hätten eine Seele. Selbst Aristoteles, der im 4. Jahrhundert v. Chr. lebende griechische Philosoph, war davon überzeugt, auch wenn diese Seele seiner Ansicht nach von geringerer Qualität war als die menschliche. Im Hinduismus, dessen Lehren es seit mindestens 1500 v. Chr. gibt, werden einige Pflanzen bestimmten Göttern zugeordnet. Ein Beispiel ist der Madjobaum (Aegle marmelos), der angebliche Shiva, dem Gott der Gesundheit, unter seinen Zweigen Schutz bietet. In der Signaturenlehre, die sich im mittelalterlichen Europa entwickelte, versuchte man, eine Verbindung zwischen dem Aussehen einer Pflanze und ihrer medizinischen Anwendung herzustellen. Ein Beispiel ist das Lungenkraut (Pulmonaria officinalis), dessen gesprenkelte Blätter Ähnlichkeit mit Lungengewebe haben sollen, so daß die Pflanze - auch heute noch - verwendet wird, um Erkrankungen der Atemwege zu behandeln. Selbst in westlichen Kulturen blieb der Glaube an Pflanzengeister lange erhalten. So weigerten sich britische Landarbeiter noch bis in unser Jahrhundert, Holunderbäume (Sambucus nigra) zu fällen, aus Furcht, sie würden sich den Zorn des Geistes zuziehen, der in dem Baum lebte und ihn schützte. Ein vergleichbares Beispiel ist aus den südamerikanischen Anden bekannt, wo die Einheimischen glaubten, der Kokastrauch (Erythroxylum coca) würde von »Mama Coca« geschützt, einem Geist, der respektiert werden wollte und den man erst besänftigen musste, wenn man die Blätter ernten und anwenden wollte.

Die Medizin der Schamanen

Viele der heute noch existierenden Naturvölker glauben, die Erde würde von guten und bösen Geistern beherrscht. Dabei gehören Krankheiten zu den Dingen, die durch böse Mächte hervorgerufen werden, so daß man Kranke zum Schamanen (einem »Medizinmann« bzw. einer »Medizinfrau«) bringt, damit dieser Verbindung mit der Geisterwelt aufnimmt und so versucht, eine Heilung herbeizuführen. Schamanen gelangen dabei mit Hilfe halluzinogener Pflanzen oder Pilze ins Geisterreich, etwa mit der Ayahuasca-Liane (Banisteriopsis caapi), die die Schamanen des Amazonasgebietes verwenden, oder mit dem Fliegenpilz (Amanita muscaria), der von den Medizinmännern sibirischer Steppenvölker eingesetzt wird. Gleichzeitig sorgen die Schamanen aber auch für die herkömmliche medizinische Behandlung ihrer Patienten, versorgen also Wunden mit Salben und Kompressen, stellen Pflanzen- und Rindenabkochungen für eine innere Anwendung her, lassen die Patienten bei Fieber schwitzen usw. Voraussetzung für eine solche Behandlung ist eine genaue Beobachtung pflanzlicher Wirkungen, aber auch überliefertes Wissen, das über Generationen mündlich weitergegeben wurde.

Die Entwicklung medizinischer Traditionen

Niemand bezweifelt, daß unsere Vorfahren eine Fülle von Heilpflanzen zu ihrer Verfügung hatten und daß sie eine beachtliche Kenntnis über die Heilkräfte dieser Pflanzen besaßen. Tatsächlich existierten bis ins 20. Jahrhundert in jedem Dorf und jeder ländlichen Gemeinde zahlreiche Gebräuche, die mit der Verwendung von Pflanzen verknüpft waren. Eine Reihe heimischer Pflanzen wurde, nachdem sie auf ihre Eignung überprüft waren, für zahlreiche herkömmliche Beschwerden verwendet, etwa in Form von Tees, Lotionen oder sogar als mit Schweineschmalz vermischte Salben. Aber wie kam es zu diesen Kenntnissen über Heilpflanzen? Mit Sicherheit kann man diese Frage nicht beantworten. Vermutlich spielten ein ständiges Ausprobieren und eine genaue Beobachtung die wichtigste Rolle. Immerhin haben die Menschen Tausende von Jahren Zeit gehabt, sowohl positive als auch negative Folgen zu beobachten, wenn man bestimmte Wurzeln, Blätter oder Früchte aß. Aber auch die Beobachtung von Tieren, die bestimmte Pflanzen fraßen oder sich an ihnen rieben, wurde der medizinischen Überlieferung hinzugefügt. Wenn man Schafe oder Rinder beobachtet, stellt man fest, daß sie mit einem fast untrüglichen Instinkt einen Bogen um giftige Pflanzen wie das Jakobskreuzkraut (Senecio jacobaea) oder den Oleander (Nerium Oleander) machen. Und man hat sogar vermutet, Menschen hätten, ebenso wie Weidetiere, einen lnstinkt, mit dem sie echte Giftpflanzen von Heilkräutern unterscheiden können.

Alte Zivilisationen

Mit der Weiterentwicklung der Zivilisationen nach 3000 v. Chr. in Ägypten, im Nahen Osten, in lndien und China schritt auch die Verwendung von Heilpflanzen ständig fort, und es gab sogar die ersten schriftlichen Belege über Heilkräuter. Das ägyptische Papyrus Ebers von etwa 1500 v. Chr. ist das älteste erhalten gebliebene Dokument dieser Art. Es listet Dutzende medizinischer Pflanzen, ihre Verwendungen, aber auch notwendige Zaubersprüche und Beschwörungen auf. Zu den Pflanzen gehören der Myrrhenstrauch (Commiphora molmol), der Wunderbaum (Ricinus communis) und der Knoblauch (Allium sativum). Auch der Veda, die heilige Schrift der Inder, die um 1500 v. Chr. entstand, enthält zahlreiche Angaben über das Heilpflanzenwissen jener Zeit. Ähnliches gilt für die Caraka Samhita, eine Sammlung medizinischer Abhandlungen, die um 700 v. Chr. von dem Arzt Caraka verfasst wurden und in denen Details von etwa 350 Kräuterarzneien aufgeführt sind. Darunter sind auch das Zahnstocherkraut (Ammi visnaga) vertreten, eine Pflanze, die ursprünglich aus dem Nahen Osten stammt und sich erst kürzlich als wirksam bei der Behandlung von Asthma erwiesen hat, sowie der Asiatische Wassernabel (Centella asiatica), der lange Zeit als Lepra-Mittel verwendet wurde.

Die Medizin bricht mit ihren mystischen Ursprüngen

Um 500 v. Chr. begann die Medizin, zumindest in den Hochkulturen, sich aus der Welt der Magie und Geister zu lösen. Der Grieche Hippokrates (460-375v.Chr.), der »Vater der Medizin«, betrachtete Krankheiten als natürliche und nicht als übernatürliche Phänomene und meinte, die Medizin müsse ohne rituelle Zeremonien oder Zauberei auskommen. Des Gelben Kaisers Klassiker des Inneren, der älteste medizinische Text Chinas aus dem 1. Jahrhundert v. Chr., befürwortet ebenfalls eine rationale Denkweise: »Bei der Behandlung von Krankheiten ist es notwendig, den gesamten Hintergrund zu berücksichtigen, die Symptome zu überprüfen und Emotionen und innere Einstellungen zu beachten. Wenn jemand Erscheinungen und Geister mit einbezieht, kann man nicht von einer Therapie sprechen. «

Die Entstehung der wichtigsten Heilpflanzentraditionen von 300 v. Chr. - 600 n. Chr.

Schon im 2. Jahrhundert v. Chr. bestand ein reger Handel zwischen Europa, dem Nahen Osten, Indien und Asien, wobei auf den Handelswegen auch Heilkräuter und andere Pflanzen transportiert wurden. Gewürznelken (Eugenia caryophyllata), die auf den Philippinen und Molukken heimisch sind, wurden schon im 3.Jahrhundert v. Chr. nach China gebracht und erreichten Ägypten etwa um das Jahr 176. Im Laufe der nächsten Jahrhunderte wuchs die Beliebtheit der Gewürznelken weiter, so daß die wegen ihres aromatischen Geschmacks und ihrer antiseptischen und schmerz- stillenden Eigenschaften geschätzte Pflanze bereits im 8. Jahrhundert fast überall in Europa verbreitet war. Während sich der Handel und das Interesse an Heilpflanzen und Gewürzen weiter ausweiteten, begann man auch, Pflanzen mit bekannten therapeutischen Eigenschaften und ihre Wirkung schriftlich festzuhalten. Der Klassiker der Wurzeln und Heilkräuter des gestaltenden Landmanns (Shen nong ben cao jing), der im 1. Jahrhundert in China entstand, hat 364 Einträge, von denen sich 252 auf Heilpflanzen beziehen, etwa auf das Chinesische Hasenohr (Bupleurum chinense), auf den Huflattich (Tussilago farfara) und auf das asiatische Süßholz (Glycyrrhiza uralensis). Und dieser taoistische Text legte die Grundlagen für eine kontinuierliche Weiterentwicklung und Verbesserung der chinesischen Kräutermedizin bis zum heutigen Tag. In Europa verfasste der griechische Arzt Dioskorides im 1. Jahrhundert das erste europäische Heilpflanzenbuch, die Materia Medica. Seine Absicht war es, ein grundlegendes und exaktes Buch über Heilpflanzen zu schreiben, und das gelang ihm ganz ausgezeichnet. Zu den vielen Pflanzen, die erwähnt wurden, gehören Wacholder (Juniperus communis), Feldulme (Ulmus minor), Pfingstrose (Paeonia officinalis) und Klette (Arctium lappa). Diese Beschreibung von rund 600 Kräutern sollte einen ungeahnten Einfluß auf die westliche Medizin haben. Sie galt in Europa bis zum 17. Jahrhundert als Standardwerk und wurde in so unterschiedliche Sprachen wie Angelsächsisch, Persisch und Hebräisch übersetzt. Im Jahre 512 wurden die Materia Medica als erstes Kräuterbuch mit Bildern der erwähnten Pflanzen versehen. Angefertigt worden war es für Juliana Arnicia, die Tochter des römischen Kaisers Flavius Avicius Olybrius, und es enthielt annähernd 400 ganzseitige farbige Abbildungen. Galen (131-199), der Leibarzt des römischen Kaisers Marc Aurel, hatte einen ähnlich großen Einfluß auf die Entwicklung der Pflanz- zenheilkunde. Von Hippokrates beeinflusst, baute er seine Theorien auf der »Humoralpathologie« (Säftelehre) auf. Und dieses Gedankengut formte - viele würden auch sagen belastete - die medizinische Praxis der nächsten 1400 Jahre. Auch in Indien und China gab es komplizierte medizinische Systeme, die ein wenig an die Humoralpathologie erinnern und die sich bis heute erhalten haben. Obwohl sich europäische, indische und chinesische Heiltraditionen beträchtlich unterscheiden, liegt doch allen die Theorie zugrunde, das Ungleichgewicht einzelner Elemente des Körpers sei die Ursache von Krankheit, und es gehöre zu den Aufgaben des Arztes, das Gleichgewicht wiederherzustellen, u. a. mit Hilfe von Heilpflanzen.

Die Pflanzenheilkunde des Mittelalters

Die Theorien Galens, aber auch die Lehren der ayurvedischen (indischen) und chinesischen Medizin, waren für die Mehrheit der damaligen Weltbevölkerung allerdings praktisch ohne Bedeutung. Ähnlich wie heute bei einer Reihe von Naturvölkern, die kaum Zugang zur moderen Medizin haben, verließ man sich in den meisten menschlichen Ansiedlungen bei der Behandlung von Krankheiten auf die Fähigkeiten einheimischer Medizinmänner und -frauen. Diese waren zwar von der Schulmedizin weitgehend unbeeinflusst, besaßen aber dennoch ein beachtliches medizinischen Wissen, das sie Überlieferungen, eigenen Erfahrungen in der Krankenpflege und Geburtshilfe sowie der Nutzung einheimischer Pflanzen als natürliche Apotheke verdankten. Wir neigen dazu, die medizinischen Fertigkeiten angeblich unentwickelter Kulturen, besonders die des mittelalterlichen Europas, zu unterschätzen, denn viele Menschen jener Zeit besaßen eine überraschend gute Kenntnis von Heilpflanzen. So zeigten Ausgrabungen eines Krankenhauses, das Mönche im 11. Jahrhundert in Schottland betrieben hatten, die Verwendung so exotischer Pflanzen wie Schlafmohn (Papaver somniferum) und Hanf (Cannabis sativa) als Schmerz- und Narkosemittel. Aber auch die Kräuterärzte in Myddfai, einem Dorf in Südwales, kannten im 6. Jahrhundert offensichtlich schon die Werke des Hippokrates und verwendeten eine große Palette von Heilpflanzen. Die Schriften, die aus jener Zeit überliefert wurden, sind oft eine merkwürdige Mischung aus Aberglaube und Wissen. Zwei Rezepte aus dem 13. Jahrhundert sollen dies verdeutlichen. Das erste könnte von einem heutigen, wissenschaftlich gebildeten Pflanzenheilkundler geschrieben worden sein, das zweite ist reine Phantasie, denn Würmer zerstören keine Zähne.

Verbesserung des Augenlichts

Man nehme jeweils eine Handvoll Augentrost und Fenchel sowie eine halbe Handvoll Weinraute und mache daraus ein Destillat, mit dem man täglich die Augen wäscht.

Vernichtung eines Wurmes im Zahn

Man nimmt die Wurzel des Ferkelkrauts, zerquetscht sie und legt sie drei Nächte auf den Zahn des Patienten. Dadurch wird der Wurm abgetötet.

Islamistische und indische Medizin von 500-1500

Wenn die Pflanzenheilkunde von den Wirren der Geschichte auch weitgehend unberührt blieb, so litt die westliche Medizin doch sehr unter dem Niedergang des römischen Weltreichs. Es war der Blüte der arabischen Kultur zwischen 500 und 1300 zu verdanken, daß das Wissen des antiken Griechenland und Roms erhalten blieb und weiterentwickelt wurde. Die Ausbreitung des Islam in Nordafrika und bis nach Italien, Spanien und Portugal führte zur Gründung und Neubelebung bekannter medizinischer Lehranstalten, z.B. im spanischen Cordoba. Die Araber waren erfahrene Pharmazeuten, die Pflanzen aufbereiteten und mischten, um die medizinische Wirkung und den Geschmack zu verbessern. Ihr Kontakt sowohl mit indischen als auch chinesischen Pflanzenheilkundetraditionen führte zu einer bemerkenswerten Bandbreite medizinischen und botanischen Wissens, auf das sie zurückgreifen und das sie weiterentwickeln konnten. Avicenna (nicht latinisiert Ibn Sina, 980-1037), Autor des Canon Medicinahe, war der berühmteste Arzt seiner Zeit, während wir die wohl ungewöhnlichste Pflanze Ibn Cordoba verdanken, einem unerschrockenen arabischen Seefahrer. Dieser brachte nämlich etwa ein Jahrhundert vorher den Ginseng (Panax Ginseng) von China nach Europa, ein wertvolles Tonikum, das seit dem 16. Jahrhundert regelmäßig nach Europa eingeführt wird. Weiter östlich, in Indien, war das 7. Jahrhundert das goldene Zeitalter der Medizin. Tausende junger Menschen studierten an der Universität ayurvedischen Heilkunde, besonders in Nalanda. Dort zeichneten Gelehrte das medizinische Wissen jener Zeit auf, darunter auch die Weiterentwicklungen bei den Krankenhäusern, Entbindungsheimen und den Medizinalgärten.

Mittel- und südamerikanische Behandlungsmethoden

Auch auf der anderen Seite der Erde hatte man in den alten Zivilisa- tionen Mittel- und Südamerikas, bei den Mayas, Azteken und Inkas, ein großes Wissen über die dort heimischen Heilpflanzen angesammelt. Diese Kenntnisse waren augenscheinlich so wertvoll, daß, wie die Überlieferung besagt, die Inkas sogar Kräuterärzte aus dem Gebiet des heutigen Bolivien in ihre Hauptstadt Cuzco in Peru brachten, da diese außergewöhnliche Fähigkeiten besaßen, darunter angeblich auch die Fertigkeit, Penicillin produzierende Pilze auf grünen Bananenschalen zu züchten. Zu jener Zeit waren in diesen Kulturen Medizin und Religion noch eng miteinander verbunden, möglicherweise sogar enger als in Europa. So schildert ein grausiger Bericht, an Hautkrankheiten leidende Azteken hätten versucht, den Gott Xipe Totec dadurch zu beschwichtigen, daß sie die abgezogenen Häute menschlicher Opfer trugen. Glücklicherweise waren Hilferufe dieser Art an die Götter nicht die einzige Möglichkeit, sich von solchen und anderen Beschwerden zu befreien. Vielmehr gab es zahlreiche Pflanzen, die als alternative Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung standen, z. B. die Sarsaparilla (Smilax spp.), ein Mittel zur Stärkung und Reinigung, das bei einer Vielzahl von Hautkrankheiten verwendet wurde, etwa bei Ekzemen oder Schuppenflechte.

Die Wiedergeburt des europäischen Gelehrtentums, 1000 -1400

Als die europäischen Gelehrten des frühen Mittelalters langsam begannen, die arabischen Medizinkenntnisse aufzunehmen, und die klassischen griechischen, römischen und ägyptischen Texte, die in den Bibliotheken Konstantinopels (dem heutigen Istanbul) erhalten geblieben waren, sich nach und nach verbreiteten, kam es zur Gründung von Krankenhäusern, Medizinschulen und Universitäten. Die interessanteste Neugründung war vielleicht die Medizinschule von Salerno an der Westküste Italiens. Sie nahm nicht nur Studenten aller Glaubensrichtungen - Christen, Mohammedaner und Juden - zum Studium auf, sondern ließ auch Frauen zu. So lehrte und arbeitete dort um etwa 1050 eine Ärztin namens Trotula, die auch ein Buch über Geburtshilfe schrieb. Pflanzen spielten bei den Heilprozessen natürlich eine zentrale Rolle. Ein Sprichwort aus jener Medizinschule über den Salbei (Salvia officinalis) lautete wie folgt: Salvia salvatrix, natura conciliatrix (Salbei ist der Retter, die Natur der Vermittler). Um das 12. Jahrhundert weitete sich der Handel mit Asien und Afrika aus, so daß regelmäßig neue Kräuter und Gewürze nach Europa kamen. Hildegard von Bingen (1098 - 1179), die berühmte deutsche Mystikerin und Heilpflanzenkennerin, bezeichnete den Galgant (Alpinia officinarum) - der in Asien als wärmendes und nährendes Kraut für das Verdauungssystem verwendet wurde - als »Gewürz des Lebens«, das von Gott gegeben war, um vor Krankheit zu schützen.

Die Einigung Asiens

Die Chinareisen Marco Polos im 14. Jahrhundert fielen in die Zeit der Einigung ganz Asiens durch Dschingis Khan und seinen Enkel Kubilai Khan, deren Machtbereich sich vom Gelben Meer in China bis zum Schwarzen Meer in Südosteuropa erstreckte. Von an diesen Umbrüchen war aber weder die chinesische noch die ayurvedische Medizin direkt bedroht, sieht man einmal davon ab, daß die mongolischen Herrscher den Gebrauch bestimmter Giftpflanzen strikt untersagten. Dazu gehörte z. B. der Eisenhut (Aconitum napellus), der damals als Pfeilgift verwendet wurde. Da man dies natürlich auch gegen die Herrschenden hätte einsetzen können, wird dieses Verbot wohl hauptsächlich dem Selbstschutz gedient haben. Ansonsten hat die mongolische Einigung für die beiden medizinischen Richtungen aber vermutlich eher eine Verbesserung der Kommunikation bedeutet. In anderen Teilen Asiens, etwa in Vietnam und Japan, hatte die chinesische Kultur und Medizin den größeren Einfluß, und auch Kampoh, die traditionelle japanische Pflanzenheilkunde, die so charakteristisch für dieses Land ist, hat ihre Wurzeln im chinesischen Brauchtum.

Der Handel zwischen den Kontinenten 1400-1700

Da sich die Handelswege während des Mittelalters langsam ausdehnten, wurde auch die Verbreitung neuer, exotischer Kräuter erleichtert. Vom 15. Jahrhundert an führte eine regelrechte Handelsexplosion zu einer Fülle neuer Pflanzen, die nun in Europa regelmäßig zur Verfügung standen, darunter der Ingwer (Zingiber officinate), Kardamom (Etettaria cardamomum), Muskatbaum (Myristica fragrans), die Gelbwurzel (Curcuma tanga), Zimt (Cinnamomum yerum) und die Kassie (Cassia senna). Der Handel mit Kräutern war allerdings nicht einseitig. So kam der in Europa heimische Salbei auch nach China und wurde dort zu einem wertvollen Yin-Tonikum. Eine weitere Quelle neuer Pflanzen eröffnete sich, als Kolumbus 1492 in der Karibik landete und eine rasche Eroberung und Kolonisation Mittel- und Südamerikas durch die Spanier und Portugiesen folgte. Denn neben dem geplünderten Gold brachten die Konquistadoren auch neue, zuvor völlig unbekannte Heilpflanzen in die Alte Welt, von denen viele eine sehr starke therapeutische Wirkung besaßen, so daß sie schon bald in den Apotheken der größeren europäischen Städte verfügbar waren. Daher konnte man nun Pflanzen mit sehr wirksamen Inhaltsstoffen wie das Guajakholz (Guaiacum olfidnale) oder den Chinarindenbaum (Cinchona spp.) mit mehr oder minder großem Erfolg bei der Behandlung von Fieber, Malaria, Syphilis und Pocken sowie bei anderen schweren Krankheiten einsetzen. In den meisten ländlichen Gebieten waren die einzigen ausländischen Pflanzen, die medizinisch verwendet wurden, allerdings solche, die man dort als Nahrungsmittel anbaute. Der Knoblauch ist dafür eines der ersten, aber auch besten Beispiele. Eigentlich in Zentralasien heimisch, gelangte er im Laufe der Zeit immer weiter nach Westen, so daß er um 4500 v. Chr. auch in Ägypten kultiviert wurde. In Homers Epos Odyssee aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. wurde der Held Odysseus bekanntlich durch den Knoblauch davor bewahrt, in ein Schwein verwandelt zu werden. Die Römer sorgten im 1. Jahrhundert für eine weitere Verbreitung der Pflanze in Europa, wo man ihre bemerkenswerten medizinischen Kräfte schnell erkannte. In den nächsten Jahrhunderten wurden die Kartoffel (Solanum tuberosum) und der Mais (Zea mays), beide in Südamerika heimisch, zu alltäglichen Nahrungsmitteln. Diese Pflanzen sind sehr nahrhaft, haben aber auch therapeutische Eigenschaften. So ist Kartoffelsaft ein wertvolles Mittel gegen Arthritis, während sich aus Maisgriffeln eine wirksame Abkochung bei Harnwegsbeschwerden, etwa Blasenentzündung, herstellen läßt.

Gesundheit und Hygiene, 1400 -1700

Zwischen dem 12. und 18. Jahrhundert stieg die vorher schon große Anzahl nützlicher europäischer Kräuter durch die Vielzahl exotischer Heilpflanzen noch einmal beträchtlich an. Daraus hätte eigentlich eine allgemeine Verbesserung der gesundheitlichen Situation in Europa resultieren müssen, nicht nur, weil neue Heilpflanzen verfügbar waren, sondern auch, weil die Europäer Gelegenheit bekamen, die unterschiedlichen medizinischen Praktiken der Menschen Südamerikas, Chinas, Japans und vor allem Indiens, mit dem der Handel besonders eng war, kennenzulernen. Allerdings war das Gegenteil der Fall. Die Menschen Europas litten in dieser Zeit unter den wohl ungesundesten Bedingungen, die die Welt jemals gesehen hat. Im Vergleich zu ihnen waren die Ureinwohner Amerikas in der vorkolumbianischen Zeit nicht nur gesünder, sondern sie wurden auch älter. Dieser Umstand kann allerdings kaum überraschen, denn in den Städten Europas lebten die Menschen im Mittelalter viel zu eng beieinander, beseitigten ihre Abfälle schlecht und beachteten selbst die einfachsten Grundregeln der Hygiene nicht. Solche Bedingungen waren wie geschaffen für die Ausbreitung pestverseuchter Ratten von den Häfen des Mittelmeergebietes über ganz Westeuropa. Und so fielen der Pest vom 14. Jahrhundert an Millionen Menschen zum Opfer, an einigen Orten manchmal sogar fast die Hälfte der Bevölkerung. Keine medizinische Behandlung - weder durch Pflanzen noch durch Mineralstoffe - war in der Lage, das große Sterben aufzuhalten. Auch im 18. Jahrhundert wurde die Bevölkerung der Städte Europas und Asiens weiter dezimiert, und noch 1994 ließ nach einem Ausbruch dieser Krankheit in Indien schon die einfache Erwähnung des Wortes »Pest« den Schrecken wieder aufleben. Die Syphilis war eine andere Seuche, die von Seefahrern verbreitet wurde. Angeblich kam sie 1490 mit Kolumbus Besatzung aus der Karibik nach Neapel und verbreitete sich von dort aus schnell überall in Europa und der übrigen Welt, auch in China, wo sie 1550 erstmals auftauchte. Europäische Ärzte hatten nur wenig Erfolg bei der Bekämpfung so verheerender Seuchen wie der Pest. Ihre Medizin beruhte weiterhin auf der kritiklosen Annahme der Galenschen Humoralpathologie. Vielleicht hätten sie größeren Erfolg gehabt, wenn sie, wie es in der chinesischen und indischen Heilkunde üblich war, alte medizinische Texte zu Rate gezogen und diese mit ihrem inzwischen größeren Wissen neu interpretiert hätten. Aber die europäischen Ärzte fuhren fort, ihre Patienten dadurch umzubringen, daß sie sie zur Ader ließen und ihnen giftige Minerale verabreichten in dem vergeblichen Versuch, ihre Körpersäfte ins richtige Verhältnis zu bringen und sie so zu heilen. Und der immer mehr in Mode kommende Gebrauch chemischer Substanzen, etwa Quecksilber, führte schließlich zu einer verstärkten Anwendung chemischer Arzneien und zu einer Abkehr von der Therapie mit Heilpflanzen.

Der Einfluß von Paracelsus

Der legendäre Paracelsus (1493-1541) - eine der wichtigsten Persönlichkeiten im Europa des 16. Jahrhunderts - gehörte zu denen, die Galens Theorien zugunsten detaillierter medizinischer Beobachtungen ablehnten. »Ich habe nichts von Hippokrates, Galen oder sonst jemandem übernommen«, schrieb Paracelsus. »Mein Wissen stammt vom besten Lehrer, den es gibt, und der heißt Erfahrung und harte Arbeit. « Und weiter: »Was ein Arzt braucht, ist weder Betedsamkeit noch Sprachen- oder Bücherkenntnis, sondern ein umfassendes Wissen über die Natur und darüber, wie sie arbeitet. « Große Aufmerksamkeit zollte er auch der genauen Dosierung, denn er sagte: »Es hängt nur von der Dosis ab, ob ein Gift ein Gift ist oder nicht. « Paracelsus hatte großen Einfluß auf die Entwicklung der Chemie, Medizin, Pflanzenheilkunde und Homöopathie. Als »Vater der Chemie« bekannt, beschäftigte er sich doch auch mit der Alchimie, die sich z. B. mit der Verwandlung einfacher Ausgangsprodukte in Gold oder mit der Suche nach dem ewigen Leben beschäftigte. Paracelsus ließ auch das Interesse an der Signaturenlehre wiederaufleben, jener alten Theorie, die besagte, das Aussehen einer Pflanze zeige die Krankheit an, für deren Behandlung sie geeignet sei, und er betonte den größeren Wert unmittelbar am Ort wachsender Heilpflanzen gegenüber teuren Importen.

Culpeper und die gedruckten Kräuterbücher

Bei seinem Eintreten für heimische Heilpflanzen wurde Paracelsus später von Nicholas Culpeper (1616-1654) unterstützt. Die Titelseite zu seinem Buch The English Physitian enthält den denkwürdigen Satz: »Mit einer vollständigen Anleitung, durch die ein Mann seinen Körper für drei Pence gesund erhalten oder heilen kann, indem er Dinge nutzt, die in England wachsen und die für den englischen Körper ohnehin am besten geeignet sind.« Nachdem er im englischen Bürgerkrieg, wo er auf Seiten Cromwells gekämpft hatte, verwundet worden war, trat Culpeper für die Belange der einfachen Leute ein, die weder die Dienste eines Arztes noch die teuren Importpflanzen oder Arzneien bezahlen konnten, welche von den Medizinern im allgemeinen verschrieben wurden. Angelehnt an die Lehren des Dioskorides, arabischer Ärzte und Paracelsus, entwickelte Culpeper ein medizinisches System, das Astrologie und fundierte persönliche Erfahrungen mit der therapeutischen Verwendung heimischer Pflanzen verband. Sein Kräuterbuch wurde sehr schnell zu einem »Bestseller« und hatte viele Auflagen. Auch das erste Kräuterbuch Nordamerikas, das im Jahre 1700 erschien, war eine Ausgabe von Culpepers Werk. Die Erfindung der Buchdruckkunst im 15. Jahrhundert machte die weitere Verbreitung von Kräuterbüchern möglich. Sie fanden Eingang in viele Haushalte. Texte wie Dioskorides Materia Medica lagen jetzt erstmals gedruckt vor, und überall in Europa erschienen Kräuterbücher, die oft mehrere Auflagen erreichten.

Tödliche Heilverfahren 1700-1900

Ende des 16. Jahrhunderts war Paracelsus zur Galionsfigur der neuen chemischen Medizin geworden. Doch während er zur Vorsicht bei der Verwendung metallischer Gifte wie Quecksilber, Antimon und Arsen gemahnt hatte, zeigten die neuen medizinischen Gelehrten weniger Hemmungen. So gab man Patienten, die an Syphilis oder anderen Krankheiten litten, immer stärkere Dosen eines Abführmittels, das unter dem Namen Kalomel (Quecksilberchlorid, Hg2Cl2) bekannt war. Eine solche Behandlung war sehr oft schlimmer als die Krankheit selbst, so daß viele Patienten unter den langfristigen Folgen einer Quecksilbervergiftung zu leiden hatten und einige sogar starben. Hippokrates Aussage »Ungewöhnliche Fälle verlangen ungewöhnliche Arzneien« wurde sehr wörtlich genommen, wie an der unglaublichen Zunahme der Verschreibung von Abführmitteln und Aderlassen deutlich wird, die in den nächsten drei Jahrhunderten in Europa und Nordamerika zu verzeichnen waren. Diese Behandlungsmethoden erreichten ihren Höhepunkt in der »heroischen« Medizin des frühen 19. Jahrhunderts. Ihr wichtigster Befürworter war Dr. Benjamin Rush (1745 -1813), der die Behauptung wagte, für eine medizinische Behandlung seien nichts weiter als Aderlasse und Kalomel erforderlich. Nun war seine Einstellung zweifellos recht extrem, aber sie macht dennoch deutlich, daß in diesem neuen Klima die Kräuterarzneien zunehmend an Bedeutung verloren.

Der neue Rationalismus

Mit dem neuen Gewicht, das auf chemische Arzneien gelegt wurde, begann die moderne Medizin, die »Lebenskraft« für überholt zu halten. Bis Ende des 16. Jahrhunderts hatten fast alle medizinischen Traditionen darauf beruht, die Natur und die Selbstheilungskräfte des menschlichen Körpers in die Behandlung miteinzubeziehen und sie durch entsprechende Heilpflanzen zu unterstützen oder zu verstärken. So ist in der traditionellen chinesischen Medizin Qi die ursprüngliche Energie, die das Leben und die Gesundheit erhält. Im Ayurveda ist es Prana, und in der westlichen Tradition sprach Hippokrates von der »vis medicatrix naturae«, der Heilkraft der Natur, während in der modernen westlichen Pflanzenheilkunde und Homöopathie der Begriff »Lebenskraft« verwendet wird. Die Bedeutsamkeit der Lebenskraft wurde im Westen von der Philosophie Rene Descartes (1596-1650) in Frage gestellt. Der französische Mathematiker teilte die Welt in Körper und Verstand, Natur und Ideen ein. Nach seiner Philosophie gehörte die immaterielle Lebenskraft, die das Leben erhielt und für Gesundheit sorgte, in den Bereich der Religion und nicht ins Gebiet der neuen, selbstbewussten medizinischen »Wissenschaft«. Für das neue medizinische Establishment, das versuchte, zu wissenschaftlich exakten Methoden zu kommen, waren »übernatürliche« Begriffe wie Lebenskraft nichts als eine überkommene Vorstellung, die an die Unkenntnis und den Aberglauben früherer Behandlungspraktiken erinnerten. Aber schon vor den Theorien Descartes hatte der rationale Ansatz wissenschaftlicher Forschung zu ersten Erfolgen geführt, denn langsam nahm das medizinische Verständnis der Körperfunktionen zu. So untersuchte William Harvey (1578-1657) das Herz und den Blutkreislauf im Detail und konnte beweisen, daß das Herz dazu diente, Blut durch den Körper zu pumpen. Heute gilt diese Studie, die 1628 veröffentlicht wurde und im deutlichen Widerspruch zu den Theorien Galens stand, als klassisches Beispiel für die Revolution in der medizinischen Wissenschaft. Seit dieser Zeit hat die Wissenschaft erstaunliche Fortschritte bei der biochemischen Erforschung der Abläufe im Körper und bei der Unterscheidung einzelner Krankheitsverläufe gemacht. Die Entwicklung wirksamer medizinischer Behandlungsmethoden zur Linderung und Heilung von Krankheiten profitierte davon im Vergleich aber viel zu wenig.

Die Lücke im wissenschaftlichen Ansatz

Rückblickend scheint es, als hätte die neue wissenschaftliche Medizin nur durch die Trennung von traditionellen Heilmethoden, mit denen sie zuvor eng verbunden war, entstehen können. Zwar fehlt der traditionellen Medizin zumeist eine genaue wissenschaftliche Erklärung für die jeweilige Wirkung, dafür ist sie der Schulmedizin in der therapeutischen Anwendung aber oft weit voraus. Virgil Vogel liefert im American Indian Medicine (University of Oklahoma Press, 1970) ein wunderschönes Beispiel dafür, wie eine »unwissende« Volksmedizin die Wissenschaft in der praktische Anwendung übertrumpfen kann: »Während des bitterkalten Winters von 1535/1536 waren die drei Schiffe von Jacques Cartier im klaftertiefen Eis des St. Lawrence-Stroms in der Nähe von Montreal eingefroren. Durch vier Fuß Schnee eingeschlossen, lebte die Gemeinschaft der 110 Männer von den Nahrungsmitteln, die in den Laderäumen ihrer Schiffe eingelagert waren. Schon bald wütete der Skorbut so fürchterlich, daß bis Mitte März 25 Männer gestorben und die anderen >bis auf drei oder vier Ausnahmen< so krank waren, daß kaum Hoffnung für ihre Genesung bestand. Als die Krise sich zuspitzte, hatte Cartier die gute Idee, den in der Nähe lebenden Indianerhäuptling Domagaia um Hilfe zu bitten, der ihn schon einmal mit >dem Saft und Mark eines bestimmten Baumes< von derselben Krankheit geheilt hatte. Die indianischen Frauen sammelten Zweige dieses magischen Baumes, >kochten die Rinde und Blätter zu einem Sud und verteilten den Bodensatz auf die Beine.< Alle, die so behandelt worden waren, gesundeten rasch, und die Franzosen staunten nicht schlecht über die Fähigkeiten der Einheimischen.« Natürlich hatten die amerikanischen Ureinwohner noch nie etwas von Vitamin C gehört, dessen Mangel Skorbut verursacht, und sie wären auch nicht in der Lage gewesen, zu erklären, warum ihre Behandlung funktionierte. Tatsächlich dauerte es noch bis 1753, ehe der britische Schiffsarzt James Lind (1716-1794), zumindest teilweise durch den Bericht Cartiers inspiriert, eine Abhandlung über Skorbut veröffentlichte, in der er darlegte, daß die Krankheit auf einer Mangelernährung beruht und durch frisches Gemüse und Früchte vermieden werden kann. James Linds Arbeit ist ein fabelhaftes Beispiel dafür, was durch die Verbindung eines systematischen wissenschaftlichen Ansatzes mit traditionellem pflanzenheilkundlichem Wissen erreicht werden kann.

Die Isolierung von Inhaltsstoffen

Auch die Entdeckung, daß der Rote Fingerhut (Digitalis purpurea) einen großen therapeutischen Wert besitzt, ist ein Beispiel dafür, wie traditionelles Wissen über Heilpflanzen zu einem großen Fortschritt in der Medizin führen kann. Dr. William Withering (1741-1799), ein konventionell ausgebildeter Arzt mit einem langjährigen Interesse an Heilpflanzen, begann, den Fingerhut genauer zu untersuchen, nachdem er auf ein Familienrezept zur Heilung von Wassersucht (Wasserretention) gestoßen war. Wie er herausfand, wurde der Fingerhut in einigen Regionen Englands traditionell zur Behandlung dieses Leidens, das toft auf ein schwaches Herz hinweist, verwendet. 1785 veröffentlichte er seine Untersuchung, in der er nicht nur dutzende sorgfältig recherchierter Fallbeispiele aufführte, sondern auch zeigen konnte, daß der Fingerhut starke (und potentiell gefährliche) Inhaltsstoffe, sogenannte Herzglykoside, besitzt, die eine wertvolle Pflanzenarznei gegen die Wassersucht darstellen und bis zum heutigen Tag entsprechend verwendet werden. Doch trotz dieses positiven Beispiels für die Möglichkeiten einer Verbindung der Naturheilkunde mit wissenschaftlichen Methoden sollte die konventionelle Medizin im 19. Jahrhundert einen anderen Weg nehmen.

Labor gegen Natur

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann die Chemie, Mutter Natur immer mehr als Arzneiquelle zu verdrängen. 1803 isolierte man narkotische Alkaloide aus dem Schlafmohn (Papayer somniferum). Ein Jahr später kam das Inulin aus dem Alant (Inula helenium) hinzu, 1838 die Salicylsäure - ein Vorläufer des Aspirin - aus der Silberweide (Salix alba). Diese Substanz konnte 1860 erstmals im Labor synthetisiert werden, und ab diesem Zeitpunkt gingen Pflanzenheilkunde und die Schulmedizin getrennte Wege. Aspirin, eine ganz neue chemische Verbindung, wurde 1899 in Deutschland entwickelt. Allerdings war das nur ein erster kleiner Schritt. Zunächst blieb der Einfluß von Universitäten, Medizinschulen und Labors noch sehr begrenzt, so daß die Kräutermedizin für die meisten Menschen weiterhin die wichtigste Form der Behandlung darstellte.

Neue Ziele und Grenzen, neue Kräuterarzneien

Wo immer sich Europäer während der großen Auswanderungswellen im 18. und 19. Jahrhundert auch ansiedelten, ob in Nord- und Südamerika, Südafrika oder Australien, stets war ein Großteil der Arzneien aus der alten Heimat nicht verfügbar oder unerschwinglich teuer. Daher mussten die Siedler sich an die Einheimischen halten, die eine gute Informationsquelle für die medizinische Wirkung lokaler Pflanzen waren. So lernten die europäischen Siedler in Südafrika die harntreibenden Eigenschaften des Bukkostrauchs (Barosma betulina) kennen, während die australischen Siedler die bemerkenswerten antiseptischen Wirkungsweisen des Teebaums (Melaleuca alternifolia) zu schätzen begannen. Und die heute noch angewendete mexikanische Kräutermedizin ist eine Mischung aus Praktiken der Azteken, Mayas und Spanier. In Nordamerika waren die einheimischen Pflanzenheilkundler besonders geschickt bei der Behandlung von Wunden und Bissen - sehr verbreitete Verletzungen bei einem Leben überwiegend in der freien Natur -, so daß sie ihren europäischen Kollegen in diesem Bereich der Medizin in vielerlei Hinsicht deutlich überlegen waren. Das ist nicht verwunderlich, wenn man an die vielen, hochwirksamen Heilpflanzen denkt, die die Ureinwohner Amerikas entdeckt hatten, darunter so bekannte Kräuter wie der Schmalblättrige Sonnenhut (Echinacea angustifolia), die Kanadische Gelbwurzel (Hydrastis canadensis) und die Aufgeblasene Lobelie (Lobelia inflata). Die europäischen Siedler lernten viel von den Einheimischen, und als die Pioniere im 19. und frühen 20. Jahrhundert westwärts zogen, kamen ständig neue Heilpflanzen hinzu. Neben den drei oben genannten Arten wurden in der Pharmacopoeia of the United States etwa 170 weitere einheimische Pflanzen aufgeführt.

Samuel Thomson und seine Anhänger

Der unorthodoxe Pflanzenheilkundler Samuel Thomson (1769 -1843) hielt die Aufgeblasene Lobelie (Lobelia inflata) und den Cayennepfeffer (Capsicum frutescens) für besonders wichtige Heilpflanzen. Sein extrem einfacher medizinischer Ansatz stand in völligem Gegensatz zu den konventionellen Praktiken seiner Zeit, war aber in vielen Fällen äußerst wirksam und eignete sich für all jene besonders gut, die in den Grenzgebieten des amerikanischen Westens lebten. Sein System, eine sehr frühe Form der Naturheilkunde (einer Therapie, bei der Krankheiten mit Heilpflanzen, natürlich angebauten Nahrungsmitteln, Sonnenlicht und frischer Luft behandelt werden), war außerordentlich beliebt, und Millionen Menschen in der Neuen Welt folgten seinen Anweisungen. Thomsons Erfolg schwand, als in der fruchtbaren Medizinlandschaft des 19. Jahrhunderts in Nordamerika andere, höher entwickelte Behandlungsmethoden auf Heilpflanzenbasis entstanden, etwa der Eklektizismus. Es entstanden aber auch eine Art Knochenlehre, bei der besonderes Gewicht auf die Behandlung des Skeletts gelegt wurde, und die Chiropraktik, ein ähnliches System, bei dem allerdings der Wirbelsäule besondere Bedeutung zukam.

Westliche Einflüsse auf die asiatische Medizin

Auf der anderen Seite der Erde, in China, wäre man Thomsons Praktiken vermutlich mit einiger Verwunderung entgegengetreten, wenngleich man auch Vertrautes entdeckt hätte, denn in der chinesischen Medizin hat es immer Diskussionen darüber gegeben, inwieweit Krankheiten etwas mit Kälte und Wärme zu tun haben könnten. Der Shang han lun (Abhandlungen über fieberhafte Erkrankungen), im 2. Jahrhundert verfaßt und während der letzten 1800 Jahre immer wieder überarbeitet und neu interpretiert, empfiehlt als wichtigstes Mittel Zimt (Cinnamomum verum) wenn der Patient »Schüttelfrost hat, schwer atmet und sich unwohl fühlt«. Im 14. Jahrhundert unterschied Wang Lu zwischen den durch Kälte und den durch Wärme hervorgerufenen Krankheiten und behandelte sie auf unterschiedliche Weise. Und diese Unterscheidung wurde von verschiedenen chinesischen Pflanzenheilkundlern bis zum 19. Jahrhundert immer detaillierter ausgearbeitet. Während des frühen 19. Jahrhunderts begann die westliche Schulmedizin, auch die traditionellen Methoden Chinas und Indiens zu beeinflussen. Dies erwies sich in vielerlei Hinsicht sicher als fruchtbar, da eine kluge Integration wissenschaftlicher Prinzipien und Methoden in die traditionelle Pflanzenheilkunde hinein die Wirksamkeit bestimmter Behandlungen durchaus verbessern kann. In Indien wurde während der britischen Herrschaft die westliche Medizin schließlich zur einzigen Alternative. Die ayurvedische Medizin galt der Schulmedizin gegenüber als unterlegen, so daß es nicht zu einer Ergänzung der traditionellen Behandlungsmethoden kam, sondern diese völlig durch die Schulmedizin ersetzt wurde. Nach der Darstellung eines Experten »tauschten die westlichen Ärzte und ihre indischen Kollegen vor 1835 noch ihr Wissen aus; danach wurde nur noch die westliche Medizin als legitim anerkannt und die östliche Lehre immer mehr zurückgedrängt. « (Robert Svoboda, Ayurveda, Life, Health and Longevity, 1992). In China war der Einfluß westlicher Ideen dagegen weniger traumatisch aufgenommen worden. Zwar befassten sich immer mehr chinesische Studenten der medizinischen Fakultät mit der westlichen Lehre, aber dies konnte die kontinuierliche Weiterentwicklung der traditionellen Naturheilkunde nicht aufhalten, da man allgemein erkannt hatte, daß jede Tradition sowohl Vorteile als auch Nachteile mit sich bringt.

Die Ächtung der Kräutermedizin 1850-1900

In Europa versuchte die konventionelle Medizin, ein Monopol für ihre Behandlungsmethoden zu errichten. So wurde 1858 im britischen Parlament eine Eingabe gemacht, die zum Ziel hatte, all jenen das Praktizieren zu verbieten, die nicht an einer konventionellen medizinischen Lehranstalt ausgebildet worden waren. Dieses Ansinnen wurde glücklicherweise abgelehnt; aber in Ländern wie Frankreich, Spanien, Italien und den USA wurde es illegal, Pflanzenheilkunde ohne eine herkömmliche medizinische Ausbildung auszuüben. Pflanzenheilkundler riskierten nun allein dadurch Geldstrafen oder sogar Haft, daß sie Patienten, die um ihre Hilfe nachgesucht hatten, Kräuterarzneien verschrieben. In Großbritannien führten solche Bedenken, aber auch der Wunsch, die westliche Pflanzenheilkunde in den Industriestädten Nordenglands als eine Alternative zur konventionellen Medizin zu etablieren, 1864 zur Gründung des National Institute of Medical Herbalists, der ersten weltweiten Körperschaft für Pflanzenheilkundler. Und die Geschichte dieses Instituts ist ein Beispiel dafür, daß pflichtbewusste Pflanzenheilkundler nicht auf das Recht verzichten werden, ihre Patienten mit sicheren, sanften und wirksamen Kräuterarzneien zu versorgen.

Das 20. Jahrhundert und die Zukunft

Für die meisten von uns ist die Medizin des 20. Jahrhunderts eng mit Medikamenten wie den Antibiotika und mit Hochtechnisierten Diagnose- und Behandlungsmethoden verbunden. Daher werden viele vermutlich überrascht sein, wenn sie erfahren, dass auf noch während des grüßten Teils dieses Jahrhunderts die medizinische Behandlung hauptsächlich auf Kräutermedizin beruhte - selbst in den westlichen Ländern.

Noch bis in die späten 30er Jahre dieses Jahrhunderts waren etwa 90 Prozent der verschreibungspflichtigen oder frei verkäuflichen Arzneien pflanzlichen Ursprungs, denn die in pharmazeutischen Betrieben hergestellten Medikamente sind erst seit rund 50 Jahren die Norm. So wurden in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs (1914-1918) z. B. tonnenweise Knoblauch (Allium sativum) und Torfmoos (Sphagnum spp.) verwendet, um Infektionen zu behandeln und Wunden zu verbinden. Knoblauch ist ein ausgezeichnetes natürliches Antibiotikum und war damals das wirksamste verfügbare Antiseptikum, während sich aus Torfmoos ein natürlicher, aseptischer Verband herstellen läßt.

Wissenschaft und Medizin

Die Entwicklung neuer Medikamente im Labor - seien sie aus Heilpflanzen extrahiert oder synthetisch hergestellt - geht bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück, als Chemiker erstmals Inhaltsstoffe wie Morphium aus dem Schlafmohn (Papayer somniferum) und Kokain aus dem Kokastrauch (Erythroxylum coca) isolierten. Von diesem Zeitpunkt an machte die Wissenschaft ungeheure Fortschritte beim Verständnis der Wirkungsweise isolierter Substanzen auf den Körper und der Vorgänge im Körper bei Gesundheit und Krankheit. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts begannen Wissenschaftler besonders Louis Pasteur (1822 -1895) - dann auch, die Mikroorganismen zu identifizieren, die für ansteckende Krankheiten wie Tuberkulose und Malaria verantwortlich waren. Daneben bestand das Hauptziel der medizinischen Forschung darin, nach einem »Allheilmittel« zu suchen, also nach einem Medikament, das Mikroorganismen direkt vernichtete und den Körper so von einer Gefährdung befreite. Dies führte schließlich zur Entdeckung oder, genauer gesagt, zur Wiederentdeckung des Penicillins im Jahre 1928 durch eine Reihe von Forschern, insbesondere Alexander Fleming (1881-1955). Zwar waren die Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts die ersten, die den Wert der Antibiotika als Arznei wissenschaftlich belegen konnten, aber sie waren nicht die ersten, die sie therapeutisch verwendeten, denn antibiotikaproduzierende Schimmelpilze wurden bereits im alten Ägypten, im Peru des 14. Jahrhunderts und in der neueren europäischer Volksheilkunde gezüchtet und bei der Bekämpfung von Infektionen verwendet. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945), als die Antibiotika erstmals zur Anwendung kamen, schien eine neue Ära anzubrechen. Man glaubte, die Seuchen ausrotten zu können, so daß lebensgefährliche Erkrankungen wie Syphilis, Lungenentzündung und Tuberkulose - zumindest in den Industrienationen - nicht länger für eine Vielzahl von Todesfällen verantwortlich sein würden. Aber die moderne Medizin lieferte auch andere, hochwirksame Medikamente, etwa entzündungshemmende Steroide, und es schien nur eine Frage der Zeit, bis Mittel gegen die meisten Krankheiten gefunden waren.

Die Vorherrschaft der Schulmedizin

Je mehr Europäer und Amerikaner sich an die neuen Medikamente gewöhnten, bei denen es zu einer fast unmittelbaren Besserung der Symptome (wenn nicht sogar zu einer Gesundung) kommt, umso mehr galt die Pflanzenheilkunde in der öffentlichen Meinung als antiquiert und »verschroben«. Dies führte dazu, daß die Pflanzenheilkunde in Nordamerika und fast überall in Europa an den Rand gedrängt wurde, und sogar in wohlhabenderen Entwicklungsländern verzichtete man zugunsten der neuen Behandlungsmethoden auf die Kräutermedizin. Dies hatten zu einem gewissen Teil die Mediziner selbst zu verantworten, bei denen die Pflanzenheilkunde als Rückfall in den Aberglauben der Vergangenheit galt. So gehörte es seit dem späten 19. Jahrhundert zu den Zielen von Organisationen wie der American Medical Association und der British Medical Association, die konventionelle medizinische Behandlung zu monopolisieren. Als Folge davon geriet die Pflanzenheilkunde in vielen Ländern, besonders in den USA, Deutschland und Großbritannien, nahezu an den Rand ihrer Existenz. So war es beispielsweise in Großbritannien zwischen 1941 und 1968 verboten, pflanzenheilkundliche Behandlungen ohne eine medizinische Qualifikation durchzuführen.

Die Wende

Zwar hatte die moderne pharmazeutische Industrie spektakuläre Erfolge zu verzeichnen, aber es gab auch entsetzliche Katastrophen. Dazu gehörte besonders die Contergan-Tragödie, in deren Verlauf 1962 in Deutschland und Großbritannien mehr als 3000 missgebildete Babys zur Welt kamen, weil die Mütter während der Schwangerschaft als Beruhigungsmittel Contergan eingenommen hatten. Diese Tragödie markierte einen Wendepunkt in der öffentlichen Meinung über synthetische Medikamente. Die Menschen begannen zu begreifen, daß die Behandlung mit modernen Pharmaprodukten auch mit Gefahren verbunden sein kann. Und dieser Umstand sowie einige weiter unten beschriebene Fakten haben bei den Verbrauchern einen Sinneswandel in Bezug auf Heilpflanzen bewirkt.

Das chinesische Beispiel

Für die Pflanzenheilkunde war es ein glücklicher Umstand, daß Mao Zedong und die kommunistische Rote Armee 1949 in China die Macht im Land übernahmen. Zu dieser Zeit hatte die westliche Medizin in China bereits fest Fuß gefasst, auch wenn der größte Teil der Bevölkerung kaum eine Chance hatte, in einem der modernen Krankenhäuser behandelt zu werden oder Zugang zu neueren Medikamenten zu bekommen. Aus dieser Notwendigkeit heraus wurde nach dem Machtwechsel die traditionelle chinesische Medizin - in erster Linie Pflanzenheilkunde und Akupunktur - neben der konventionellen westlichen Medizin wieder vermehrt angewendet. Die Verantwortlichen versuchten dabei, das Beste beider Welten zu verbinden. So richtete man fünf Lehrkrankenhäuser für traditionelle chinesische Medizin (TCM) ein, die auf wissenschaftlicher Grundlage unterrichteten, und es wurden große Bemühungen unternommen, die Qualität der Pflanzenheilkunde zu verbessern. Im Gegensatz zur konventionellen westlichen Medizin, bei der die Patienten immer mehr von Ärzten und den hochtechnisierten Apparaten abhängig sind, betont die TCM, wie andere Formen der Komplementärmedizin auch, die Eigenverantwortung des Patienten für seine Genesung und fördert damit einen holistischen Ansatz. In den 60er Jahren führte China das System der »Bahrfußärzte« ein. Nach einer medizinischen Grundausbildung, die Pflanzenheilkunde, Akupunktur und westliche Behandlungsmethoden einschloss, wurden diese Ärzte ausgeschickt, um die gesundheitliche Betreuung der Millionen Chinesen zu übernehmen, die weit entfernt von Städten und den dort verfügbaren Einrichtungen lebten. Diese Bahrfußärzte der späten 60er Jahre wurden zum Vorbild für ein Modell der Weltgesundheitsorganisation, das versucht, traditionelle Pflanzenheilkundler in die Gesundheitsfürsorge der Entwicklungsländer einzubinden.

Westliche Medizin und Pflanzenheilkunde

Aber nicht nur die Initiative der Weltgesundheitsorganisation, sondern auch die Erfahrung hat gezeigt, daß die traditionelle (Pflanzen-) Heilkunde und die westliche Medizin sehr gut als Gespann funktionieren können, auch wenn die Verbindung oft nicht einfach ist. J. M. Janzens The Quest for Therapy in Lower Zaire (University of California Press, 1978) beschreibt eine solche Interaktion in Afrika: »Die Menschen in Zaire erkennen die Vorteile der westlichen Medizin und verlangen nach Operationen, Medikamenten und Krankenhausbetreuung. Aber völlig unerwartet verschwinden durch die westliche Medizin weder die einheimischen Pflanzenheilkundler und Wahrsager noch der traditionelle Beistand durch Stammesangehörige. Vielmehr hat sich eine [funktionierende Beziehung] entwickelt, so daß in den Gedanken und im Leben der Menschen verschiedene Formen der Therapie eine ergänzende und keine konkurrierende Rolle spielen. « Die hohen Kosten der westlichen Behandlungsmethoden sind eine weiterer Faktor, der Menschen und Regierungen ermutigt hat, die traditionelle Naturheilkunde noch einmal einer Überprüfung zu unterziehen. In China, Mexiko, Kuba, Ägypten, Ghana, Indien und der Mongolei, um nur einige Beispiele zu nennen, wird die Pflanzenheilkunde wieder in größerem Maße praktiziert, und zwar nicht nur von traditionellen, sondern auch von konventionellen Ärzten. Außerdem sind ganz unterschiedliche Behandlungsformen entstanden, um der Vielfalt des Bedarfs innerhalb der Bevölkerung zu entsprechen. So bietet etwa Indien ein außergewöhnliches Beispiel für die unterschiedlichen Wahlmöglichkeiten in der medizinischen Versorgung. Neben Ärzten, die in konventioneller westlicher Medizin ausgebildet wurden, gibt es medizinisch geschulte Ayurveda-Ärzte, traditionelle Ayurveda-Ärzte, Pflanzenheilkundler und Homöopathen.

Ein Wandel in der Einstellung

Der vermutlich wichtigste Faktor für das wachsende Interesse an der Komplementärrnedizin ist der schlechte Gesundheitszustand der Bevölkerung in den westlichen Gesellschaften. Zwar ist es der konventionellen Medizin gelungen, gefährliche Infektionskrankheiten unter Kontrolle zu bringen - auch wenn es inzwischen beunruhigende Anzeichen dafür gibt, daß immer mehr infektiöse Organismen gegen Antibiotika immun werden, hauptsächlich aufgrund einer unkontrollierten Verwendung dieser Medikamente -, aber dafür scheinen chronische Krankheiten auf dem Vormarsch zu sein. Vermutlich nehmen etwa 50 Prozent der Menschen in den westlichen Ländern täglich eine oder mehrere konventionelle Arzneien gegen so unterschiedliche Leiden wie hohen Blutdruck, Asthma, Arthritis und Depressionen. Viele westliche Länder wie die USA und Frankreich geben astronomische Summen für die Gesundheitsfürsorge aus, und trotz dieser gewaltigen Investition bleibt ein Großteil der Bevölkerung nachweislich krank. Sogar die bisher stets gestiegene Lebenserwartung in den Industriestaaten beginnt sich umzukehren - vielleicht ein Ergebnis von Schadstoffen in der Umwelt und ihrer Anreicherung im Körper. Im Laufe der Jahre hat ein Wandel des öffentlichen Bewusstseins zu einem neuen Interesse an der Pflanzenheilkunde geführt. Tatsächlich werden einige Kräuterarzneien heute so häufig verwendet, daß sie ein normaler Bestandteil des täglichen Lebens geworden sind. Eines von vielen Beispielen ist das Öl der Nachtkerze, das Hunderttausende von Frauen in Großbritannien verwenden, um prämenstruelle Schmerzen zu lindern. Dieses Öl stammt aus den Samen von Oenothera biennis, einer in Nordamerika heimischen Pflanze. Das Öl der Pfefferminze (Mentha x piperita), das bei Reizkolon und anderen Problemen des Magen-Darm-Trakts verordnet wird, ist ein weiteres Beispiel, während die Kassie (Cassia senna), eine der weltweit am häufigsten verwendeten Arzneien, als einfaches, wirksames Mittel bei leichter Verstopfung gilt. Aber auch das wachsende Bewusstsein, wie eng unser Leben mit dem Schicksal unseres Planeten verflochten ist, erhöht die Wertschätzung für Heilpflanzen. Denn solange ein Raubbau verhindert wird, steht die Pflanzenheilkunde ökologisch durchaus in Einklang mit der Umwelt.

Pflanzenheilkunde und Holismus

Die »Keimtheorie der Krankheiten«, die besagt, Krankheit würde durch den Kontakt mit ansteckenden Organismen hervorgerufen, gilt in der konventionellen Medizin immer noch weitgehend als Dogma. Medizinisch ausgebildete Pflanzenheilkundler glauben jedoch, dies sei nur ein Teil der Wahrheit. Denn während Krankheiten wie Cholera und Typhus tatsächlich hochgradig ansteckend sind und fast jeden infizieren, werden viele Infektionskrankheiten nicht automatisch von einer Person auf eine andere übertragen. Deshalb stellt sich die Frage, welche Schwäche im Körper eines Patienten dem Infektionskeim eine Einnistung erlaubt. Im Gegensatz zu zahlreichen konventionellen Behandlungsmethoden, die darauf abzielen, den Keim oder die Symptome zu beseitigen, bevorzugt die Kräutermedizin einen ausgewogeneren Ansatz, wobei sie versucht, die Schwäche zu behandeln, die Anlass für die Krankheit war, und zwar im Zusammenhang mit den Lebensumständen des Patienten. Pflanzenheilkundler identifizieren eine Vielfalt von Faktoren, die hinter dem Ausbruch einer Krankheit stehen. Dabei sind körperliche Anzeichen und Symptome die wichtigsten Indikatoren, man berücksichtigt aber auch die Ernährung sowie emotionale und sogar seelische Faktoren. Unser Körper besteht aus über drei Milliarden Zellen, die in Harmonie funktionieren müssen, wenn wir gesund bleiben wollen. Werden Heilpflanzen geschickt verwendet, dann wirken sie harmonisch auf unseren Körper ein, stimulieren, stärken oder hemmen verschiedene Zellgruppen und fördern so die Rückkehr zu einem abgestimmten Zusammenwirken. Weitere Ziele sind die Stärkung der Widerstandskräfte des Patienten, die Verbesserung der Vitalität eines geschwächten Gewebes und die Anregung der Selbstheilungskräfte des Körpers, damit er gesundet. Natürlich kann es für Menschen mit schwerwiegenden akuten Krankheiten zu spät sein, sich mit Heilpflanzen behandeln zu lassen. In solchen Fällen können starke konventionelle Arzneien wie Herzmittel, Antibiotika und schmerzstillende Mittel, aber auch Operationen Leben retten. Allerdings könnte ein Gesundheitssystem, das gut auf die Bedürfnisse der Patienten eingestellt ist, zunächst durchaus mit einer Heilpflanzenbehandlung beginnen, während die konventionellen Methoden in Reserve gehalten und dann angewendet werden, wenn es notwendig ist.

Erwiesene Pluspunkte für die Pflanzenheilkunde

Viele Medizinwissenschaftler halten es für unvorstellbar, daß Naturheilmittel bei der Behandlung von Krankheiten ebenso gut oder sogar besser sein können als synthetische Medikamente. Glücklicherweise beginnt sich diese Einstellung aber zu wandeln, denn die Forschung offenbart mehr und mehr, wie effektiv eine Heilpflanzenbehandlung sein kann. Das Johanniskraut (Hypericum perforatum) ist eine in Europa heimische Pflanze, die wegen ihrer therapeutischen Eigenschaften sehr geschätzt wird. In seinem Werk Herball (1597) empfiehlt John Gerard ihr Öl als »eine wertvolle Arznei für tiefe Wunden und diejenigen, die den Körper durchziehen, für solche mit ausgefransten Wundrändern oder jede Wunde, die durch eine vergiftete Waffe verursacht wurde... Ich weiß, daß es auf der Erde nichts Besseres gibt« [Kursivschrift wurde ergänzt]. Vier Jahrhunderte später stellte man in einer Untersuchung fest, daß das Johanniskraut tatsächlich starke antivirale Eigenschaften besitzt und sich vielleicht als wertvoll bei der Behandlung vieler Krankheiten, einschließlich AIDS, erweisen könnte. Das Johanniskraut ist aber auch ein althergebrachtes Mittel gegen Depressionen und nervliche Erschöpfung. Wie eine 1993 in Österreich durchgeführte klinische Studie zeigen konnte, ist diese Pflanze genauso wirksam wie konventionelle Arzneien. Sie bringt aber den großen Vorteil mit, daß ihre Einnahme im Gegensatz zu diesen nur mit geringen Nebenwirkungen verbunden ist. Das Johanniskraut ist ein Beispiel dafür, daß die modeme Forschung häufig das jahrhundertealte Wissen der Pflanzenheilkundler bestätigt. Allerdings haben die heute praktizierenden Ärzte dennoch einen großen Vorteil gegenüber früher: Sie verstehen inzwischen besser, wie die Pflanze im Körper wirkt, und können sie entsprechend präzise dosieren. Sie sind gut auf die Nebenwirkungen gefasst und wissen ziemlich genau, in welcher Weise die Pflanze angewendet werden sollte. Neben dem Johanniskraut werden aber noch viele andere Pflanzen auf der Suche nach Wirkstoffen gegen AIDS getestet. Zwei Beispiele dafür sind die australische Pflanze Castanospermum australe, die von den Aborigines, den Ureinwohnern, als Pfeilgift verwendet wurde, und die Mädchenkiefer (Pinus parviflora). Und es ist zu erwarten, daß es in naher Zukunft eine dramatische Zunahme an Heilpflanzen geben wird, die auf ihre medizinische Verwendung hin untersucht werden.

Heilpflanzen und das große Geschäft

Die großen Pharmakonzerne haben inzwischen ebenfalls gemerkt, daß Regenwälder, Steppen und sogar Hecken und Felder eine Fundgrube für unschätzbare Arzneien sein können. Daher investieren sie große Summen in die Suche nach pflanzlichen Inhaltsstoffen, die sich als Medikamente vermarkten lassen. Glaxo, der größte Pharmakonzern der Welt, untersucht jede Woche 13000 pflanzliche Substanzen auf potentielle Wirkstoffe; inzwischen ist man sogar dabei, die Forschung in diesem Bereich zu automatisieren, so daß man in Zukunft eine Kapazität von etwa zwei Millionen Pflanzensubstanzen pro Woche erreichen wird. Wenn dies tatsächlich eine Vision dessen ist, was kommen wird, so dürfen wir Aufsehen erregende Entdeckungen auf dem Gebiet der Pflanzenmedizin erwarten. Es gibt jedoch ein grundlegendes Problem im heutigen Ansatz der pharmazeutischen Industrie. Dort ist man nur an isolierten pflanzlichen Substanzen interessiert, die dann synthetisiert und patentiert werden können. Mit einem Patent kann eine Gesellschaft entsprechende Gewinne erzielen und so die gewaltigen Entwicklungskosten wieder hereinholen. Heilpflanzen sind aber uneinheitliche, natürlich vorkommende Arzneien, die nicht patentiert werden können und sollten. Selbst wenn die großen Pharmakonzerne eine Pflanze wie das Johanniskraut finden, die sich als wirksamer und sicherer als konventionelle Medikamente erweisen würde, würden sie es trotzdem versuchen, daraus synthetische Arzneien herzustellen, anstatt eine Kräutermedizin auf den Markt zu bringen.

Pflanzlicher Synergismus

Ein Begriff trennt die Heilpflanzen mehr als jeder andere von der konventionellen Medizin: Synergismus. Wenn man die ganze Pflanze verwendet, anstatt einzelne Bestandteile zu isolieren, wirken die verschiedenen Teile oft zusammen, so daß in einem solchen Fall, wie man glaubt, eine größere therapeutische Wirkung erreicht wird als durch die äquivalenten Dosen isolierter Inhaltsstoffe, wie sie im allgemeinen von der konventionellen Medizin bevorzugt werden. In zunehmender Weise zeigt die Forschung, daß Pflanzen wie Meerträubel (Ephedra sinica), Weißdorn (Crataegus laevigata), Ginkgo (Ginkgo biloba) und Maiglöckchen (Convallaria majalis) dank der natürlichen Kombination von Bestandteilen, die in der ganzen Pflanze stecken, eine stärkere medizinische Wirkung haben als erwartet. In einigen Fällen kann der medizinische Wert einer Pflanze völlig von der Kombination der einzelnen Substanzen abhängen, läßt sich also nicht mit einem oder zwei »aktiven« Inhaltsstoffen erreichen.

Die Zukunft der Kräutermedizin

Die Zukunft der Kräutermedizin wird in besonderem Maße davon abhängen, ob Heilpflanzen und das traditionelle Wissen über ihre Verwendung als das gesehen werden, was sie im Grunde sind - eine gewaltige Quelle sicherer, ökonomischer, ökologischer und ausgewogener Arzneien -, oder ob sie, wie viele andere Dinge auch, für kurzfristige Gewinne ausgebeutet werden. In einem speziellen Fall konnten die Skeptiker aus den Reihen der Schulmediziner davon überzeugt werden, daß pflanzliche Arzneien nicht nur ein schwacher Ersatz für konventionelle Medikamente sind, sondern eine wertvolle, gleichberechtigte Form der Behandlung. Bei Untersuchungen über die Wirkung einer bestimmten chinesischen Pflanze auf Patienten mit Ekzemen, die 1990 am Londoner Royal Free Hospital durchgeführt wurden, zeigten sich Schulmediziner überrascht, daß das Hinzufügen einer einzigen Pflanze zu einer chinesischen Arznei, in der bereits 10 andere Kräuter enthalten waren, zu einer deutlichen Verbesserung bei einem Patienten führte, der bisher nicht auf die Behandlung angesprochen hatte. Diese Begebenheit ist ein gutes Beispiel für das Geschick und die Kunst der Kräuterärzte. Durch die genau auf den einzelnen Patienten zugeschnittene Arzneimischung sowie die Behandlung der Ursachen und nicht der Symptome konnten inzwischen große Fortschritte erzielt werden. Dieser Ansatz ist weit entfernt von der Arbeitsweise der Schulmedizin, die jeweils ein und denselben Wirkstoff für die Behandlung einer Krankheit verwendet. In Indien und China gibt es an den Universitäten seit Jahrzehnten Kurse in Pflanzenheilkunde. Im Westen vollzieht sich der Wandel sehr viel langsamer, auch wenn 1994 an der Middlesex Universität in London nun die erste Veranstaltung dieser Art in Westeuropa durchgeführt wurde. Eine Kombination aus traditioneller Pflanzenheilkunde und medizinischer Forschung, ähnlich wie sie in China angewendet wird, könnte in eine Zukunft weisen, in der Patienten zwischen konventionellen und pflanzenheilkundliche Therapieansätzen wählen können, je nachdem, welche medizinische Behandlung ihnen am besten zusagt.

 

Danke an dem Grauer-Magier